Meditationen zu den Stationen

1. Station: Jesus wird verurteilt

Die einen waschen sich die Hände in Unschuld: Tut mir Leid, ich kann da leider auch nichts ändern. Die anderen schlagen zu und setzen ihre eigenen Interessen mit roher Gewalt durch. Du stehst dazwischen, ohnmächtig – ohne Macht, im Urteil der anderen gefangen. Alltagsgeschehen, wo jemand die Interessen der Mächtigen – sei es Macht aufgrund der sozialen Struktur oder körperlicher Kraft – durchkreuzt und einfach nur versucht, aufrecht zu stehen. Herr, hilf mir heute im Blick auf Dich achtsam zu sein, dass ich erkenne, wo jemand in Gefahr ist, unter die verurteilenden Räder zu kommen, und ihm helfe, aufrecht sein zu können.

2. Station: Jesus nimmt das Kreuz auf sich

Warum ich? Zerbrochene Beziehung – Verlust der Arbeitsstelle – plötzlich krank – ausgegrenzt als fremd – mein eigener Weg ist mir fremd geworden – Warum ich? Trotzdem: ich muss nicht unter dem Zerbrochenen zusammenbrechen. Der Versuch, Leidvolles anzunehmen, ist der Versuch, aufrecht zu stehen. Nicht Fremdes entscheidet über mich, sondern ich kann mich entscheiden, das Leid anzunehmen wie Du. Ich bin gemeint, Herr. Lass mich aufrecht stehen da, wo es schwer wird, und lass mich andere in ihrer Not stützen können.

3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz

Da stolpert einer unter seiner Last und fällt. Karriere aus, Erfolgsweg beendet, zur Schadenfreude der Konkurrenz. Wer weiterkommen will, kann sich das nicht erlauben. Stolpern lässt sich nicht vertuschen. Für einen Augenblick siegt die Schwäche. Das ist die Realität dieses Augenblicks. Es gilt sie anzunehmen. Dann werde ich da, wo ich nicht weiterkomme, wirklich weiterkommen. Mach mich bereit, Herr, mich zu meiner Schwäche zu stellen und anderen eine helfende Hand zu reichen.

4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter

Wenn es unerträglich wird, was ich zu tragen habe, brauche ich einen Menschen, der fraglos zu mir gehört. Selbst wenn jetzt gerade niemand da ist: es gäbe mich nicht, wenn nicht irgendwann irgendjemand mir seine Zuwendung geschenkt hätte. Auch die Erinnerung kann Kraft schenken und die Einsamkeit des Leids mildern. Zeige mir, Herr, wo ich heute einem Menschen, der sich mit seiner Last abmüht, diese fraglose Zugehörigkeit schenken kann – wie Deine Mutter.

5. Station: Simon von Zyrene hilft Jesus tragen

Er kommt eher zufällig vorbei und will eigentlich gar nicht. Doch dann packt er zu und hilft. Die Last bleibt, die Situation verändert sich nicht, es geht immer noch in Richtung Tod.Aber da ist jemand, der ein Wegstück mitgeht, mitträgt, in die gleiche Richtung schaut, wortlos da ist. Lass mich nicht wegschauen, Herr, wenn ich heute jemanden sehe, der fast zusammenbricht. Schenke mir den Mut, mitzugehen, seine Blickrichtung aufzunehmen und die Last mit ihm zu teilen.

6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

Zuschauer am Weg: Sie schauen genau hin, lassen sich nicht die kleinste Regung entgehen, als würden sie angesichts des Leids anderer erst mit sich selbst wirklich in Fühlung geraten. Aber um den Leidenden geht es dabei nicht wirklich. Und dann ist da in der Menge eine, die wirklich hinschaut, deren Blick wie ein Tuch ist, in das der Gequälte sein Antlitz hineindrücken kann. Er hinterlässt Spuren in ihrer Seele und ist nicht länger allein. Öffne mir das Herz, Herr, dass ich nicht zu den Gaffern am Straßenrand gehöre, sondern wie Veronika die Spuren des Leids in mich hineinnehme und mitleide.

7. Station: Jesus fällt zum zweiten Mal

Das macht das Fallen so schwer: das Hohnlachen anderer, die da stehen und sich scheinbar freuen, dass ich unten bin. Und es gibt immer wieder Menschen, die meinen, sie könnten besser und größer sein, wenn ich nicht schon den Platz besetzt hätte, der eigentlich ihnen zustände. Unten sein, nicht mehr allein hochkommen, Hilfe brauchen – das ist schon ohne die Schadenfreude anderer schwer. Du bist auch unten, Herr. Schenke mir den Mut, Dich in denen zu erkennen, die unten sind, und ihnen hoch zu helfen.

8. Station: Jesus begegnet den weinenden Frauen

So viel Gewalt, so viel Unrecht, so viel Leid, so viel Einsamkeit – was kann ich denn da schon tun?! Das Letzte, was jemand tun kann, wenn er sonst nichts mehr tun kann, ist aushalten, klagen, die Tränen der anderen mitweinen, ihren stummen Schmerz ins Wort bringen – und Gott ans Herz halten. Lass mich nicht wegsehen, Herr, wenn neben mir jemand leidet, sondern gib mir Tränen, um sie mit ihm zu weinen, gib mir Worte der Klage, um sie mit ihm zu schreien zu Dir hin.

9. Station: Jesus fällt zum dritten Mal

Völlig am Boden, zu Füßen der anderen. Weiter runter geht’s nicht mehr. Nicht mehr können, und – weil keine Kraft mehr da ist – auch nicht mehr wollen. Da hilft nicht hoch zerren und: stell dich nicht so an! Da hilft nur die Hoffnung: dies ist jetzt mein Weg, und er endet hier nicht! Und der zaghafte Glaube, nicht allein zu sein. Lenke meinen Blick nach unten, Herr, dorthin, wo Du bist – und lass mich heute wenigstens für einen Menschen, der völlig unten ist, Weggefährte sein.

10. Station: Jesus wird seiner Kleider beraubt

Entblößt – das ist mehr, als Kleider ausziehen. Entblößen, das hat etwas zu tun mit erniedrigen, entwürdigen, missbrauchen – im Großen wie im Kleinen. Das darf niemand an mir tun – und das darf ich um meiner Würde willen auch nicht selbst an mir tun. Lass mich wachsam sein, Herr, dass ich entdecke, wo ein Mensch in meiner Nähe erniedrigt, entwürdigt, missbraucht wird, und schenke mir den Mut, für seine Würde einzutreten.

11. Station: Jesus wird ans Kreuz geschlagen

Für manche scheint es unerträglich zu sein, wenn da jemand nur Gutes will. Was bleibt anderes, als ihn in seinen schwachen Stellen festzunageln?! Wo ich mein Herz sprechen lasse, ist tatsächlich meine schwächste Stelle. Aber die kann auch ein Nagel nicht verschließen, höchstens öffnen. Mein Herz ist meine schwächste Stelle: Quelle des Dunklen wie auch des Hellen. Aber es ist zugleich meine stärkste Stelle – im Dunklen wie im Hellen. Sich darin festnageln lassen, klärt aus dem Dunkel ins Helle! Achte auf mich, Herr, dass ich niemanden da festnagele, wo er gut sein will!

12. Station: Jesus stirbt am Kreuz

Aus! Das war’s dann – in der Geschichte unserer Liebe, im Verlauf des Gespräches, im Prozess des Vertrauens … nie wieder. Endgültig Ende. Wozu da noch die beiden, die unterm Kreuz bleiben, warten, aushalten? Worauf warten sie denn? Worauf soll ich denn noch warten, wenn ich doch alles versucht habe? Vielleicht warten sie gar nicht. Vielleicht versuchen sie gerade, loszulassen, was sie so gern halten möchten, loszulassen, was sie gehofft hatten, loszulassen, wovon sie gelebt haben … Hilf mir, Herr, nicht aufzugeben, sondern loszulassen ins Vertrauen hinein: Du bist der Lebendige Gott, auch und gerade da, wo alles tot scheint.

13. Station: Jesus wird in den Schoß seiner Mutter gelegt

Mutter ist - weit über das biologische Verständnis hinaus -, wer einem Menschen zum Leben hilft, ihn aus dem Eigenen nährt, ihn gehen lehrt, ihn in die eigene Freiheit loslässt und doch fraglos zugehörig bleibt. Mutterschoß – dem beginnenden Leben Raum geben in welcher Beziehung auch immer. Mutterschoß – dem endenden Leben Heimat geben in welcher Beziehung auch immer. Lass mich nicht zurückschrecken, Herr, wenn jemand im Sterben bei mir Heimat sucht.

14. Station: Jesus wird ins Grab gelegt

Schweigen, Dunkelheit, Erdgrenze – das kennzeichnet den Weg zum Grab. Aber auch Gemeinschaft in der Trauer, im Abschiednehmen, im Aushalten der Grenze. Alle meine Hoffnungen, meine Freude, mein Lebensgrund fallen in diesem Erdloch in sich zusammen, wenn ich nicht weiter sehe als bis ins Grab. Doch was ich der Erde überlasse, wird keimen zum neuen Leben – wie und wann auch immer. Dein Grab, Herr, ist nicht das Ende, sondern das Tor, durch das neues Leben auferstehen wird. Lass mich in der Gemeinschaft der Glaubenden und Hoffenden den Himmel über aller Dunkelheit offen halten bis Du kommst in lebendiger Herrlichkeit.

Text: Schwester M. Ancilla Röttger